Georg G. Meerwein: Rechtsnachfolge des Verlags Müller und Schröder, Dresdnerstr. 38, Berlin SW 68 – Identifizierung einer Bibliographie

[Druck der Vorlagebögen:] MüIIer & Schröder, Berlin SW 68, Dresdener Str. 38 0548

O. Gracklauer
Bibliographische Agentur

Berlin, den 19.Mai 1987
RN 22/V

Rechtsnachfolge des Verlags Müller und Schröder,
Dresdnerstr. 38, Berlin SW 68 – Identifizierung einer Bibliographie

 

Zum Verlag.

Die Fa. Müller & Schröder, Berlin SW 68, Dresdener Str. 38, Buchdruckerei und Verlag, war 1902 gegründet worden. Inhaber war zuletzt Willy Schröder. 1942 existierte die Firma noch unter obiger Adresse, später wurde sie, vermutlich 1943/44 und vermutlich nach Zerstörung des bisherigen Domizils durch Luftangriffe (das betreffende Stadtgebiet zwischen Kreuzberg und Berlin-Mitte war sehr schwer zerstört) nach Mahlow, Krs, Potsdam, verlegt, 1950 war sie bereits erloschen.

Zu den Druckseiten.

Typographische Merkmale (Schrift, Satzanordnung) der 6 Probeseiten verweisen auf den Zeitraum zwischen den späteren zwanziger Jahren und dem Ende der fünfziger bis Mitte der sechziger Jahre. Der jüngste Titel auf den 6 (doch wohl zufällig herausgegriffenen) Probeseiten stammt aus dem Jahr 1933, als terminus ante quem non für die Entstehung der Druckseiten ergäbe sich damit das Jahr 1935; sollten sich auf anderen Druckseiten noch jüngere Erscheinungsjahre finden, würde sich dieser terminus entsprechend verschieben. Da auf den Druckseiten Druckerei und Verlag angegeben sind und die betreffende Firma nach Kriegsende 1945 offenbar keine neuen Titel mehr herausgebracht hat, ergibt sich als Entstehungszeit der Druckseiten der Zeitraum zwischen 1935 und 1945.

Unter den zwischen 1935 und 1950 veröffentlichten Titeln – diesen Zeitraum haben wir noch einmal überprüft, während Ihnen bereits eine entsprechende Mitteilung der Deutschen Bibliothek vorliegt – findet sich nicht ein einziger, der auch nur in etwa zu jenen Druckseiten in irgendeiner Beziehung stehen könnte. Die letzten Kriegs- und die ersten Nachkriegsjahre waren zwar, was Verlage und Publikationen angeht, eine äußerst wirre Zeit, doch die Bibliographie hat bis 1952 den Zeitraum 1944-1950 systematisch aufgearbeitet; es ist eher zu erwarten, daß ein Titel aufgenormmen ist, der (z.B.durch Kriegsschäden) garnicht erschienen oder nur in wenigen Exemplaren in den Handel gekommen ist, als daß ein wirklich erschienener Titel gänzlich durchs Raster gefallen wäre.

Es handelt sich nicht um eine Bibliographie, vielmehr ist es, wie allein schon die jedem einzelnen Titel beigefügten Bibliotheks-Signaturen beweisen, um den Bestandskatalog einer Bibliothek. Es muß sich, auch wenn wir bei der Beurteilung nur von den 6 hier in Ablichtung vorliegenden Probeseiten ausgehen können, um eine deutsche Fachbibliothek, und eine recht umfangreiche, zum Thema Kochkunst und Gastronomie gehandelt haben. Es könnte sich in der Tat, wie Sie bereits vermuteten, um den Katalog der verlorenen Bibliothek des einstigen Kochkunstmuseums handeln.

Aus diesem Katalog läßt sich sogar das Ordnungssystem der betr. Bibliothek rekonstruieren. Das läßt sich bereits an den uns vorliegenden 6 Probeseiten vorführen. Einige Beispiele.

A IV   KOCHBÜCHER ALLGEMEIN u. GESCHICHTE
A IV/10         La Chapelle, Modern Cook
A IV/95         Senn, Simple Cookery
A IV/120 Senn, Gastronomy
A IV/224 Deyo Rulan, Cook-Book Left-Overs

G           WEIN WEINWIRTSCHAFT
G 4/51   Shaw, Wino
G 4/53   Sheen, Wines

S           ERNÄHRUNG ALLGEMEIN u. GESCHICHTE
S 1/12   Kuechler, Lehre Ernährung Menschen
S 1/68   Dierbach, Flora Nahrungsmittel alten Römer
S 4/15   Sibson, Every-day Chemistry

Das ließe sich fortsetzen. Noch einige Sachgruppen.

C I               DIÄT
F I                 KONSERVEN   KONSERVIEREN
H I                 HAUSHALT. HAUSHALTSLEHRE
R I                 LEXIKA DEUTSCHLAND
R II               LEXIKA ÖSTERREICH, SCHWEIZ (vermutlich, auf den 6 Seiten nicht vorkommend)
R III               FRANKREICH
R IV           LEXIKA ANGLOAMERIKANISCHE

Mit Hilfe des leicht zu erschließenden (veralteten) Ordnungssystems (als ob es die Dezimalklassifikation nicht gäbe) wäre ohne Mühe die Fachbibliothek zu identifizieren, deren Katalog mit jenen Druckseiten vorliegt.

Ob es sich tatsächlich um den Bibliothekskatalog des einstigen Kochkunstmuseums handelt, läßt sich unschwer feststellen durch einen Vergleich dieses Katalogs mit jener Bücherliste des Kochkunstmuseums, die Herr Walter Bickel 1982 dem Verband der Köche Deutschlands überlassen hat. Die Bücherliste wird wahrscheinlich die Titel nur in Kurzfassung enthalten, doch wie immer sie auch aussehen mag, es sollte bei jedem Titel auch die Signatur beigefügt sein.

Wenn es sich wirklich um den Bibliothekskatalog des Kochkunstmuseums handeln sollte, so erscheint es zwar merkwürdig, daß Herr Bickel sich 1982, als er den Ordner mit der Bücherliste übersandte, nicht daran erinnert haben sollte, daß noch vor Kriegsende der Katalog in Druck gegangen war, der dann infolge der Kriegsereignisse nicht mehr erscheinen konnte. Denkbar wäre selbstverständlich, daß ihm dies wohl in Erinnerung war, daß er aber eine Erwähnung für überflüssig hielt, da er alle Spuren davon verloren wähnte.

Sollte der Katalog tatsächlich die Bücher des Kochkunstmuseums verzeichnen, so wäre es selbstverständlich diese Institution gewesen, die seinerzeit den Auftrag an Müller & Schröder gegeben hat. Zu fragen bliebe dann noch, wer den Katalog zusammengestellt hat. Wäre es Herr Bickel selbst gewesen, so würde er dies doch wohl 1982 erwähnt haben.

Herr Bickel hat 1936 ein Buch bei Müller & Schröder veröffentlicht (“Frankreich = Küche der Welt, 1”); die damit begonnene Buchreihe wurde jedoch nicht fortgesetzt. Im gleichen Jahr 1936 hat Herr Bickel noch einen Band “Dekameron der Feinschmecker” im Societäts-Verlag in Frankfurt/Main veröffentlicht. Die von Herrn Bickel herausgegebene Reihe “Kochkunstbibliothek” erschien von 1941 bis Kriegsende bei Killinger in Nordhausen und nach den Verlagsenteignungen im Osten beim (im August 1949 gegründeten und nach wie vor bestehenden)Fachbuchverlag Dr. Pfanneberg in Gießen (bis 1950: von 14 geplanten Bdn. 12 erschienen, darunter 2 von Herrn Bickel selbst geschriebene Bde.). Herr Bickel hatte also, nachdem er sein Amt in Berlin angetreten hatte (zuvor hatte er noch ein Bändchen “Moderne Eierspeisen” bei Hinstorff in Rostock, 2. Aufl. 1932, veröffentlicht), 1935/36 als Autor unmittelbaren Kontakt mit Müller & Schröder gehabt, doch die von ihn so schwungvoll mit einem ersten Band begonnene Reihe “Küche der Welt” wurde dort nicht fortgesetzt – es ist eher anzunehmen, daß der Verlag sich mit dieser etwas anspruchsvolleren Veröffentlichung geschäftlich übernommen hatte und passen mußte, als daß der Autor kein weiteres Manuskript mehr geliefert hätte.

Zu der Zeit jedenfalls, zu der vermutlich die Druckseiten des Katalogs entstanden, war Herr Bickel fest mit einem anderen Verlag verbunden. Ob Herr Bickel persönlich etwas mit der Vergabe des Auftrags für den Katalog an Müller & Schröder zu tun hatte, bleibt offen.

Ein Punkt ist dabei noch wichtig. Was die Druckvorlage anbelangt, nach der bei Müller & Schröder gesetzt wurde, so hätte es dafür keineswegs eines besonderen Bearbeiters oder Herausgebers bedurft. Die den Auftrag vergebende Bibliothek (welche immer es auch gewesen sein mag) wäre in jedem Fall von einem Bibliothekar geführt worden und hätte über einen Katalog verfügt. Wenn als Druckvorlage eigens ein Manuskript angefertigt worden wäre, so hätte dieses Manuskript ohne weiteres von einer Bibliotheksschreibkraft getreu nach dem Katalog abgeschrieben und nach Durchsicht und Korrektur durch den Bibliothekar der Setzerei übergeben werden können. Ebensogut hätte aber als Vorlage für den Satz auch der Katalog der Bibliothek selbst dienen können, ob dieser nun aus alten Folianten mit handschriftlichen Einträgen oder aus neuzeitlicheren Karteikarten in Karteikästen bestand.

Ob es sich bei dem in den Druckseiten vorliegenden Katalog um den Katalog der Bibliothek des Kochkunstmuseums (bzw. der Reichskochschule) handelt, können Sie, wie gesagt, ohne große Mühe durch einen Vergleich zwischen dem Druckseiten-Katalog und der von Herrn Bickel überlassenen Bücherliste feststellen. Selbst wenn in der Bücherliste (unverzeihlicherweise) die Signaturen ausgelassen wären, würde doch ein Vergleich des Bücherbestands, Titel für Titel, zwischen Katalog und Liste zur eindeutigen Klärung der Frage führen. Sollte sich der Druckseiten Katalog nicht auf jene Bibliothek beziehen, so wäre der entsprechende Fachmann zu befragen, wo es etwa in Deutschland bis zum Kriegsende eine derartige Spezial-Bibliothek derartigen Umfangs gegeben haben könnte. In Königsberg? In Breslau? Sehr viele öffentliche oder doch allgemein zugängliche Bibliotheken diese Art dürfte es nicht gegeben haben, und um eine solche handelte es sich offensichtlich; der Katalog einer Privatsammlung sähe anders aus.

Bleibt noch die Frage, wie das Druckbogenexemplar des Katalogs zustandegekommen ist und welchen, quasi, aggregatzustand es darstellt. Wenn Sie das aufgebundene Exemplar einem altgedienten Druckereifachmann vorlegen würden, wäre dieser sofort in der Lage, festzustellen, ob die Bogen Korrekturabzüge bzw. zu irgend einem Zweck einzeln gefertigte Abzüge (Bürstenabzüge) sind oder ob sie vom Auflagendruck genommen sind. Die uns vorliegenden 6 Probeseiten wirken so, als seien die Bogen vom Auflagendruck genommen, doch diese Xerox-Kopien sind selbstverständlich keine Beurteilungsgrundlage.

Sollten die Bogen durchgehend vom Auflagendruck stammen, so würde das bedeuten, daß der Katalog bereits in der vorgesehenen Auflagenhöhe ausgedruckt war, daß vielleicht auch schon die Exemplare zusammengetragen waren, und daß nur noch die Titelei mit dem unentbehrlichen Vorwort (z.B. zu Entstehung und Geschichte der Bibliothek) samt etwaigen Erläuterungen fehlten, als ein Fall höherer Gewalt eintrat, der die Fertigstellung der Veröffentlichung des Katalogs verhinderte. Ein Bombentreffer könnte die Setzerei zerstört haben, sodaß die fehlenden Seiten nicht mehr gesetzt werden konnten, oder die Lagerräume könnten durch Bombeneinwirkung vernichtet worden sein. Der nördliche Teil der Dresdener Straße jedenfalls, wo Müller & Schröder angesiedelt waren, wie das gesamte Areal nördlich von Moritz- und Oranienplatz war bei Kriegsende eine einzige Trümmerwüste, aus der kaum noch einige Ruinenmauern aufragten. Denkbar wäre sogar, daß die Bestände der Druckerei noch existierten, als die Sowjetarmee eintraf, daß danach aber der Katalog, nachdem die auftraggebende Institution nicht mehr existierte und sich auch sonst kein Interessent fand (bis auf den einen Interessierten, der sich das Ihnen vorliegende Exemplar sicherte), irgendwann makuliert wurde. Doch das ist schon wilde Spekulation.

Sollten sich die Bogen dagegen als Korrekturabzüge erweisen, so ließe sich vermuten, daß der Katalog garnicht mehr in Druck gegangen ist. Möglicherweise ist der Auftrag an Müller & Schröder erst Ende 1943 oder erst 1944 ergangen und in dieser Zeit, in den letzten Monaten bis zum Kriegsende, konnten manche Ereignisse dafür sorgen, daß ein in Berlin (oder in Hamburg, Leipzig, Königsberg, Breslau) entstehendes Buch nicht das Licht der Welt erblicken sollte: Zerstörung von Setzerei, Druckerei, ganzen Auflagen durch Bombentreffer, Einstellung der Arbeit, nachdem die Mitarbeiter zum Volkssturm einberufen waren, oder Einstellung der Arbeit, nachdem die Papierzuteilung nicht mehr bewilligt wurde.

So wird letztlich wohl alles, was die letzten Stadien der einst in Angriff genommenen Veröffentlichung des Katalogs anbelangt, für immer ein Rätselspiel bleiben. Doch die Identität der Bibliothek, deren Katalog Ihnen – möglicherweise als Unikat – in Form von Druckbogen vorliegt, muß kein Rätsel bleiben. Und ist diese Bibliothek einmal identifiziert, so wäre der Weg frei zu einer Reprintausgabe des Katalogs, es wäre nur noch der entsprechende Buchtitel zu finden und eine angemessene Einleitung zu schreiben – für die allein schon das Schicksal des Ihnen vorliegenden Katalogexemplars eine Fülle von Material liefert.

Welch ein Glückszufall bei allem Unglück, das den Katalog und wohl auch die betr. Bibliothek befallen hat, daß Herr Bickel einst eine Kopie jener Bücherliste anfertigte, diese bewahrte, über alle Fährnisse hinweg retten konnte und sie schließlich der zuständigen Berufsorganisation überließ. Der Katalog läßt sich schließlich auch als bibliographisches Hilfsmittel benutzen. Immerhin erwecken die uns vorliegenden 6 Seiten den Eindruck (auch wenn wir keine Experten auf dem betr. Gebiet sind), daß die Bibliothek eine einigermaßen komplette Sammlung zum Thema aufzuweisen hatte. Die Kataloganordnung freilich, alphabetisch nach Autoren und Titeln, macht die Suche zu einer recht mühseligen Angelegenheit, wollte man z.B. Titel zu einem bestimmten Thema finden; man müßte praktisch den Katalog von A bis Z durchsehen und die entsprechenden Titel herausziehen. Allerdings liegt die Möglichkeit auf der Hand, den Katalog tatsächlich in eine Bibliographie zu verwandeln: Man müßte lediglich ein geeignetes Sachgruppenverzeichnis aufstellen und in den Computer eingeben, danach könnte man die Katalogtitel Stück für Stück herausziehen und der betr. Sachgruppe zuordnen – der Computer macht so etwas mit Leichtigkeit. Das wäre freilich dann keine schlichte Reprintausgabe mehr, aber die Sache könnte doch vielleicht nützlich sein; der Fachmann müßte beurteilen können, ob Bedarf an einer derartigen Bibliographie besteht.

gez. Dr.G.G.M/me)